Kann ein neu entfachter Marxismus den europäischen Faschismus stoppen?

Die Geschichte der politischen Ideen ist geprägt von Strömungen, die Gesellschaften erschütterten, Revolutionen entfachten und Kriege provozierten. Unter diesen Ideologien ragt der Marxismus als eine der einflussreichsten und zugleich umstrittensten heraus. Seine Wurzeln reichen zurück ins 19. Jahrhundert, als Karl Marx und Friedrich Engels mit ihren Schriften eine radikale Kritik an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit formulierten. Heute, in einer Zeit, in der Europa erneut mit dem Aufstieg rechtsextremer und faschistischer Bewegungen konfrontiert ist, stellt sich die Frage: Kann ein neu entfachter Marxismus eine Antwort auf diese Bedrohung bieten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst die Ursprünge des Marxismus betrachten, seine Entwicklung nachzeichnen und schließlich seine Relevanz für die Gegenwart analysieren.

Die Geburt des Marxismus: Eine Antwort auf die Industrialisierung

Der Marxismus entstand als Reaktion auf die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Die industrielle Revolution hatte eine neue Klasse geschaffen: das Proletariat, die Arbeiterklasse, die unter prekären Bedingungen in Fabriken schuftete, während eine kleine Elite von Kapitalisten immense Reichtümer anhäufte. Karl Marx, ein deutscher Philosoph und Ökonom, sah in dieser Ungleichheit den Kern des Problems. In seinem Hauptwerk „Das Kapital“ analysierte er die Mechanismen des Kapitalismus und kam zu dem Schluss, dass dieser auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse beruht. Die Arbeiter produzieren den Reichtum, doch sie profitieren nicht davon – stattdessen bereichern sich die Kapitalisten.

Marx und Engels entwickelten eine umfassende Theorie, die nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft, die Politik und die Kultur umfasste. Sie argumentierten, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Der Kapitalismus, so ihre Prognose, würde irgendwann an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen und durch eine klassenlose Gesellschaft, den Kommunismus, abgelöst werden.

Die Verbreitung und Spaltung des Marxismus

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fand der Marxismus breite Anhängerschaft, insbesondere in der Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische und sozialistische Parteien übernahmen Teile der marxistischen Lehre in ihre Programme. Doch schon bald zeigten sich Differenzen in der Interpretation und Anwendung der Theorie. Während einige, wie die deutsche Sozialdemokratie unter August Bebel und Karl Kautsky, auf einen reformistischen Weg setzten, plädierten andere, wie Wladimir Lenin, für eine revolutionäre Umwälzung.

Die Russische Revolution von 1917 markierte einen Wendepunkt. Lenin und die Bolschewiki ergriffen die Macht und versuchten, den Marxismus in die Praxis umzusetzen. Doch der „Marxismus-Leninismus“, wie die von Lenin entwickelte Variante genannt wurde, unterschied sich in vielen Punkten von den ursprünglichen Ideen von Marx und Engels. Die Sowjetunion wurde zum ersten sozialistischen Staat, doch der Preis war hoch: politische Unterdrückung, wirtschaftliche Ineffizienz und die Entstehung einer neuen privilegierten Klasse, der Nomenklatura.

In der Folge spaltete sich der Marxismus in zahlreiche Strömungen auf. Der Maoismus in China, der Trotzkismus, der Titoismus in ehm. Jugoslawien und der westliche Neomarxismus, wie er von der Frankfurter Schule vertreten wurde, entwickelten jeweils eigene Interpretationen und Schwerpunkte. Doch trotz aller Unterschiede blieb der gemeinsame Nenner die Kritik am Kapitalismus und die Vision einer gerechteren Gesellschaft.

Der Marxismus im 20. Jahrhundert: Triumph und Niedergang

Das 20. Jahrhundert war geprägt vom Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der im Kalten Krieg seinen Höhepunkt fand. Der Marxismus schien zeitweise die Oberhand zu gewinnen, als sozialistische Regime in Osteuropa, Asien und Lateinamerika an die Macht kamen. Doch spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 schien der Marxismus als politische Kraft diskreditiert. Die realsozialistischen Staaten hatten ihre Versprechen nicht eingelöst: Statt Freiheit und Wohlstand herrschten oft Armut, Unterdrückung und Bürokratie.

Doch der Marxismus verschwand nicht vollständig. In akademischen Kreisen, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, blieb er eine wichtige Denkschule. Philosophen wie Louis Althusser, Antonio Gramsci und Slavoj Žižek entwickelten die marxistische Theorie weiter und passten sie an die veränderten Bedingungen der späten Moderne an. Gleichzeitig entstanden neue Bewegungen, die sich auf marxistische Ideen beriefen, wie die globalisierungskritische Bewegung oder die lateinamerikanischen Linksregierungen unter Hugo Chávez und Evo Morales.

Der Aufstieg des europäischen Faschismus im 21. Jahrhundert

Heute, im Jahr 2025, steht Europa vor einer neuen Bedrohung: dem Aufstieg rechtsextremer und faschistischer Bewegungen. Parteien wie der Rassemblement National in Frankreich, die AfD in Deutschland oder die Lega in Italien gewinnen zunehmend an Einfluss. Sie bedienen sich nationalistischer, fremdenfeindlicher und autoritärer Rhetorik und stellen die Grundwerte der liberalen Demokratie infrage. Die Ursachen für diesen Aufstieg sind vielfältig: wirtschaftliche Unsicherheit, soziale Ungleichheit, die Flüchtlingskrise und das Gefühl, von den politischen Eliten im Stich gelassen zu werden.

In dieser Situation stellt sich die Frage, ob der Marxismus eine Antwort auf den Faschismus bieten kann. Schließlich war es eine der zentralen Lehren von Marx, dass der Kapitalismus nicht nur Ausbeutung, sondern auch soziale Spannungen und politische Instabilität hervorbringt. Der Faschismus, so könnte man argumentieren, ist eine Reaktion auf diese Instabilität – eine autoritäre „Lösung“ für die Krisen des Kapitalismus.

Kann ein neu entfachter Marxismus den Faschismus stoppen?

Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Einerseits bietet der Marxismus ein mächtiges Instrument zur Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Faschismus. Er zeigt auf, wie die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen weniger zu sozialer Ungleichheit und politischer Entfremdung führt. Ein neu entfachter Marxismus könnte daher eine Alternative bieten: eine Politik, die auf Solidarität, soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe setzt.

Andererseits ist der Marxismus kein Allheilmittel. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, dass die Umsetzung marxistischer Ideen in die Praxis oft mit großen Problemen verbunden war. Zudem hat der Marxismus in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch mit dem Erbe des Realsozialismus zu kämpfen. Viele Menschen verbinden ihn mit Unterdrückung, Mangelwirtschaft und politischer Willkür.

Dennoch gibt es Anzeichen für eine Renaissance des Marxismus. In Zeiten von Klimakrise, wachsender sozialer Ungleichheit und politischer Instabilität gewinnen seine Ideen wieder an Relevanz. Bewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for Future und die Gewerkschaftsbewegung greifen auf marxistische Konzepte zurück, um ihre Forderungen zu untermauern.

Fazit: Marxismus als Werkzeug, nicht als Dogma

Ein neu entfachter Marxismus könnte durchaus eine Rolle im Kampf gegen den europäischen Faschismus spielen – allerdings nur, wenn er sich als offenes, kritisches und demokratisches Projekt versteht. Statt dogmatisch an den Schriften von Marx und Engels festzuhalten, muss er die Herausforderungen der Gegenwart annehmen: die Digitalisierung, die Klimakrise, die Globalisierung. Er muss Brücken schlagen zu anderen progressiven Bewegungen und eine gemeinsame Vision für eine gerechtere und freiere Gesellschaft entwickeln.

Letztendlich ist der Marxismus kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug – ein Werkzeug, um die Welt zu verstehen und zu verändern. Ob er den Faschismus stoppen kann, hängt davon ab, wie wir ihn nutzen.

Die Kurz-URL des vorliegenden Artikels lautet: https://klassengesellschaft.com/Marx

Über Schwabing Dog

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Hundeaffiner Frührentner & politischer Aktivist, der gerne seine Privatsphäre pflegt. Als tierliebende Betreuungsperson von Fellnasen mag ich besonders gern anspruchsvolle Charakterhunde (Sturrköpfe), die bei mir auch mal so richtig aufdrehen (toben) dürfen.

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