Wie Politik, Private sowie ÖRR & Qualitätsmedien dem “Sozialchauvinismus” bzw. Klassismus frönen: Eine sozioökonomische Analyse

In den letzten Jahren ist das Phänomen des “Sozialchauvinismus” wieder stärker in die öffentliche Debatte gerückt – und zwar nicht nur in rechtspopulistischen Kreisen, sondern auch im Mainstream der Gesellschaft. Während wir uns als fortschrittlich-modernes Land verstehen, scheint es immer häufiger zu passieren, dass Menschen, die bereits am Rande der Gesellschaft stehen, weiter marginalisiert werden. Dies geschieht durch eine Kombination aus politischen Entscheidungen, medialen Diskursen und gesellschaftlichen Dynamiken, die sich gegenseitig verstärken. In diesem Artikel möchte ich einen Blick hinter die Kulissen werfen, um zu analysieren, wie Politik, Privatwirtschaft sowie öffentlich-rechtliche und private Medien gemeinsam dazu beitragen, den Sozialchauvinismus bzw. Klassismus zu verfestigen.

Wenn nun der Begriff „Klassismus“ durch den Begriff „Sozialchauvinismus“ ersetzt wird, dann wird hierdurch in doppelter Weise eine Kritik in den sozialen Bewegungen erschwert: Alltags-Klassismus innerhalb der Linken wird genauso schwer formulierbar wie die historische Kontextualisierung von sozialchauvinistischer Kriegstreiberei. Andreas Kemper, Deutscher Publizist und Soziologe

Was genau ist Sozialchauvinismus?
Bevor wir tiefer einsteigen, sei kurz erklärt, was wir unter Sozialchauvinismus verstehen: Es handelt sich dabei um eine Form von Chauvinismus, die weniger auf Nationalität oder Ethnizität abzielt, sondern auf soziale Unterschiede. Im Kern geht es darum, bestimmte soziale Gruppen (etwa Sozialhilfeempfänger_innen, Arbeitslose oder Flüchtlinge) zu diskriminieren und deren Situation zu verschlechtern, indem sie als “faul”, “nutzlos” oder “Last für die Gesellschaft” dargestellt werden. Diese Dämonisierung führt dazu, dass Wut und Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht gegen die eigentlichen Strukturprobleme gerichtet werden, sondern stattdessen auf Schwächere projiziert wird.

Sozialchauvinismus im historischen Kontext: Eine kurze Rückbesinnung

Der Begriff Sozialchauvinismus hat seinen Ursprung in den Debatten der internationalen Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere während des Ersten Weltkriegs. In dieser Zeit bezeichnete er die Haltung jener sozialdemokratischer oder marxistischer Kräfte, die ihre internationale Klassenloyalität zugunsten nationaler Interessen aufgaben und stattdessen den Kriegsbemühungen ihrer jeweiligen Staaten Unterstützung zukommen ließen. Diese Position wurde von revolutionären Linken wie Lenin und Rosa Luxemburg scharf kritisiert, da sie den Kerngedanken des Internationalismus – dass die Arbeiter_innen aller Länder gemeinsame Interessen hätten und nicht gegeneinander kämpfen sollten – verleugnete.

Im historischen Kontext war der Sozialchauvinismus also ein Phänomen, das nationalistische Gefühle mit sozialistischen Idealen verband, um die eigene Bevölkerung für konservative oder gar imperialistische Ziele zu mobilisieren. Die Betroffenen – vor allem Migranten, Flüchtlinge oder andere marginalisierte Gruppen – wurden als “Fremdkörper” dargestellt, die die nationale Gemeinschaft bedrohten. Dieses Narrativ wurde erfolgreich genutzt, um Klassenkonflikte zu verschleiern und die Wut der Unterschichten auf äußere Feinde zu lenken.

Heute zeigt sich der Sozialchauvinismus zwar in anderen Formen, doch seine Grundidee bleibt dieselbe: Die Schwächsten werden instrumentalisiert, um gesellschaftliche Spannungen abzufedern und bestehende Ungleichheiten zu rechtfertigen. Während der historische Fokus einst auf nationalen Kriegen lag, konzentriert sich der moderne Sozialchauvinismus eher auf innere gesellschaftliche Konflikte, wie die Diskussion um Sozialleistungen, Migration oder Arbeitsmarktpolitik. Doch auch hier wird die Solidarität zwischen verschiedenen sozialen Schichten untergraben, um strukturelle Probleme zu kaschieren und privilegierte Positionen zu schützen.

Dieser historische Zusammenhang verdeutlicht, dass der Sozialchauvinismus kein neues Phänomen ist, sondern eine bewährte Strategie, die immer wieder auferstanden ist, wenn es galt, gesellschaftliche Unruhen durch Divide-and-Conquer-Maßnahmen einzudämmen.

Politik: Die Kunst des Wegschauens

Die deutsche Politik hat in den letzten Jahrzehnten systematisch dafür gesorgt, dass die Lücken zwischen Reichen und Armen immer größer werden. Durch Steuerreformen zugunsten hoher Einkommen, Sparmaßnahmen bei Sozialleistungen und die Einführung von Minijobs wurde eine klare Botschaft gesendet: Wer arbeitet, hat Anspruch auf Unterstützung – aber nur wenn er oder sie sich anpassen und “vernünftig” agiert. Dieses Narrativ wird besonders stark in Debatten um neue Formen der Grundsicherung sichtbar, wo Sozialhilfeempfänger_innen oft als “Trutzburg des Systems” beschrieben werden, während die tatsächlichen Probleme – etwa die steigenden Mieten, sinkenden Löhne und fehlenden Arbeitsplätzen – ignoriert werden.

Ein klassisches Beispiel hierfür sind Talkshows wie “Maischberger”, “Anne Will”,  “Markus Lanz”, “Hart aber Fair” mit Louis Klamroth oder auch “Caren Miosga”, in denen reguläre Vertreter_innen von rechtspopulistischen Parteien auftreten und die Existenzbedrohung von Prekären als “Selbstverschulden” darstellen. Diese Framing-Strategie ist gefährlich, weil sie komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge vereinfacht und statt Lösungen Schuldzuweisungen bietet.

Außerdem lässt die Politik bewusst Raum für populistische Diskurse, die von der AfD, CDU/CSU und anderen rechten Kräften genutzt werden. Indem sie zum Beispiel über “übermäßige Asylantenströme” oder “Missbrauch des Sozialstaates” reden, lenken sie die Aufmerksamkeit von den echten Verursachern der wirtschaftlichen Ungleichheit ab – nämlich von jenen, die Kapital ansammeln und die Mehrheit der Bevölkerung ausbeuten.

Der Radfahrer-Effekt: Warum treten wir nach unten?

Der oben erwähnte Radfahrer-Effekt – nach oben buckeln, nach unten treten – spielt hier eine zentrale Rolle. Viele Menschen, die selbst unter Druck stehen, richten ihre Frustration nicht gegen diejenigen, die für ihre Misere verantwortlich sind, sondern gegen noch Schwächere. Dieses Verhalten lässt sich mit dem Konzept projizierten Selbsthasses  erklären: Wenn man sich selbst als Opfer empfindet, sucht man nach jemandem, der noch schlimmer dran ist, um sich besser zu fühlen.

Hier zeigt sich auch die Relevanz von Heinrich Manns Roman Der Untertan . Sein Protagonist Diederich Heßling verkörpert den Typus des Opportunisten, der seine eigenen Interessen über alles stellt und dabei andere niedertritt. Diese Figur ist heute aktueller denn je – ob es sich nun um einen Geschäftsmann handelt, der sich durch Bestechung nach oben arbeitet, oder um einen Arbeitnehmer, der seinen Kollegen sabotiert, um selbst voranzukommen.

Michael Hartmanns (Soziologe) Forschung verdeutlicht ebenfalls, wie stark die Eliten davon profitieren, wenn die Unterschichten sich gegenseitig bekämpfen. Solange Arbeiter_innen und Prekäre ihre Wut auf Migranten oder Sozialhilfeempfänger_innen richten, bleiben die strukturellen Machtverhältnisse unangetastet. Die Oberklasse kann sich dann weiterhin zurücklehnen und zuschauen, wie die unteren Schichten sich gegenseitig auffressen.

Die Rolle der Medien: Zwischen Manipulation und Ignoranz

Die Medienlandschaft in Deutschland ist gespalten zwischen qualitätsorientierten Anbietern und Sensationsjournalismus. Während die öffentlich-rechtlichen Sender (ÖRR) traditionell als Garanten seriöser Berichterstattung gelten, haben auch sie in den letzten Jahren kritische Stimmen hinsichtlich ihrer Darstellung sozialer Themen erfahren. Viele Sendungen neigen dazu, komplexe Fragen zu vereinfachen und Emotionen anzufeuern, anstatt fundierte Analysen anzubieten.

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Privatkanäle wie RTL oder Sat.1 tragen ihrerseits zur Verschlechterung der Situation bei, indem sie skandalträchtige Geschichten über “Sozialsystem-Schmarotzer” oder “Asylbetrüger” bringen. Diese Berichte sind oft wenig recherchiert und dienen primär dem Ziel, Einschaltquoten zu maximieren. Doch die Konsequenzen sind katastrophal: Sie verstärken Vorurteile und schüren Hass.

Auch die Printmedien sind nicht frei von Kritik. Michael Hallers Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass viele Journalisten ihre grundlegende Aufgabe – die unabhängige Informationsvermittlung – vernachlässigt haben. Statt sich kritisch mit Machtstrukturen auseinanderzusetzen, folgen sie oft den Interessen ihrer Auftraggeber oder reproduzieren populistische Narrative.

Der Chauvinismus der Bourgeoisie ist eine bloße Eitelkeit, die alle ihre eigenen Ansprüche national bemänteln soll. Er ist ein Mittel, durch stehende Heere die internationalen Kämpfe zu verewigen, in jedem Land die Produzenten zu unterjochen, indem man sie gegen ihre Brüder in jedem anderen Land hetzt, ein Mittel, die internationale Zusammenarbeit der Arbeiterklassen, die erste Bedingung ihrer Emanzipation, zu verhindern. (Karl Marx, Deutsch-Französischer Krieg, 1871)

Warum funktioniert diese Strategie?

Um zu verstehen, warum Sozialchauvinismus so erfolgreich ist, müssen wir uns den psychologischen Mechanismen zuwenden, die ihn antreiben. Hier einige wichtige Faktoren:

Identifikation mit dem Aggressor: Menschen, die sich selbst bedroht fühlen, tendieren dazu, sich mit stärkeren Gruppen zu identifizieren. Sie akzeptieren die Argumente der Machthaber, um Teil einer “gewinnenden Seite” zu sein.

Sündenbock-Mechanismus: Komplexe Probleme lassen sich schwer lösen, daher suchen Menschen einfache Erklärungen. Indem sie spezifische Gruppen (z.B. Flüchtlinge oder Sozialhilfeempfänger_innen) als Sündenböcke ausmachen, können sie ihre eigene Hilflosigkeit ignorieren.

Mangel an Bildung und Kritikfähigkeit: Ohne fundierte Kenntnisse über soziale Systeme fallen Menschen leichter auf manipulative Nachrichten herein.

Wie können wir diesen Trend stoppen?

Es gibt keine einfache Lösung für das Problem des Sozialchauvinismus, aber einige Maßnahmen könnten helfen:

Besserer Journalismus: Journalisten sollten wieder zu ihrer ursprünglichen Aufgabe zurückkehren und kritisch über Machtstrukturen berichten, statt populistische Narrativen zu reproduzieren.

Politische Bildung: Bildungsprogramme, die junge Menschen lehren, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, könnten dazu beitragen, Vorurteile zu reduzieren.

Solidarität fördern: Es muss möglich gemacht werden, dass unterschiedliche soziale Gruppen zusammenarbeiten und ihre gemeinsamen Interessen erkennen.

Stärkung der Gewerkschaften: Gewerkschaften könnten eine wichtige Rolle spielen, indem sie für gerechte Arbeitsbedingungen kämpfen und gleichzeitig Solidarität zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen fördern.

SchlussfolgerungSozialchauvinismus

Der Sozialchauvinismus ist kein zufälliges Phänomen, sondern das Ergebnis strategischer Entscheidungen von Politik, Wirtschaft und Medien. Um diesem Trend entgegenzuwirken, brauchen wir mehr als nur gute Absichten – wir benötigen konkrete Handlungen, die dazu führen, dass alle Mitglieder unserer Gesellschaft gleiche Chancen erhalten. Nur so können wir eine gerechtere und solidarischere Zukunft gestalten.

Lassen wir uns also nicht länger täuschen: Die wirklichen Feinde der Gesellschaft sind nicht die Schwachen, sondern die Starken, die sie ausnutzen.

Die Kurz-URL des vorliegenden Artikels lautet: https://klassengesellschaft.com/4v11

Über Schwabing Dog

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Hundeaffiner Frührentner & politischer Aktivist, der gerne seine Privatsphäre pflegt. Als tierliebende Betreuungsperson von Fellnasen mag ich besonders gern anspruchsvolle Charakterhunde (Sturrköpfe), die bei mir auch mal so richtig aufdrehen (toben) dürfen.

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