Die unsichtbaren Ketten der Klassenmacht: Pierre Bourdieu und die moderne Gesellschaft

Liebe Leserinnen und Leser,

heute möchte ich Sie einladen, einen Blick hinter die Kulissen unserer scheinbar meritokratischen Gesellschaft zu werfen. Denn wenn wir von Chancengleichheit sprechen, sollten wir uns auch mit den Strukturen befassen, die diese Gleichheit oft nur illusorisch erscheinen lassen.

Pierre Bourdieus Kapitaltheorie bietet uns dabei einen Schlüssel zur Erklärung, warum einige Menschen trotz gleicher Anstrengungen weiterhin im Kreis drehen, während andere fast spielerisch nach oben gelangen. Lassen Sie uns gemeinsam die verschiedenen Formen von Kapital analysieren, die unser Leben maßgeblich prägen.

Ökonomisches Kapital – mehr als nur Zahlen auf dem Konto
Beginnen wir mit dem offensichtlichsten Faktor: Geld. Doch es geht hier nicht nur um das aktuelle Bankkonto. Vielmehr ist es die langfristige Sicherheit, die aus einem Erbe oder Immobilienbestand resultiert. Stellen Sie sich vor: Während eine Person ihre Studiengebühren durch Nebenjobs finanzieren muss und somit weniger Zeit für ihr Studium hat, kann sich eine andere ganz auf ihre Ausbildung konzentrieren. Dieser Unterschied wird dann später zum Vorteil, wenn die zweite Person bessere Noten erzielt und somit auch bessere Jobangebote bekommt.

Kulturelles Kapital – die Macht der Bildung
Bourdieu unterteilt dieses Kapital in drei Zustände: institutionalisiert (z.B. Abschlüsse), objektiviert (z.B. Bücher, Kunstwerke) und incorporiert (innerlich verankerte Verhaltensweisen). Besonders interessant finde ich letzteres: Wie spricht man? Welche Interessen hat man? Diese “feinen Unterschiede“, wie Soziologin Kemper sie nennt, können entscheidend sein.  Prof. Dr. Francis Seeck beschreibt in ihren Forschungsarbeiten, wie bereits der Vorname oder die Aussprache bestimmter Wörter dazu führen kann, dass jemand automatisch als weniger kompetent wahrgenommen wird – unabhängig von seiner tatsächlichen Qualifikation.

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Soziales Kapital – die Bedeutung von Netzwerken
“Es gibt zwei Arten von Vitamin B: Den Briefumschlag und den Bekanntenkreis”, scherzt Seeck. Doch dahinter verbirgt sich eine ernste Realität. Wer kennt wen? Welche Türen können durch Empfehlungen geöffnet werden? Auch hier zeigt sich wieder die Selbstverstärkung: Diejenigen, die Zugang zu exklusiven Kreisen haben, können weitere Kontakte knüpfen und so ihr Netzwerk kontinuierlich ausbauen.

Der Habitus als unsichtbares Korsett
Besonders faszinierend ist der Begriff des Habitus, den Bourdieu entwickelt hat. Dies sind jene innerlich verankerten Dispositionen, die uns schon früh prägen. Sehen Sie sich einmal an, wie unterschiedlich Kinder aus verschiedenen sozialen Milieus spielen: Ein Kind aus einer akademischen Familie wird sich instinktiv anders verhalten als eines aus arbeiterischer Umgebung. Diese Unterschiede bleiben bestehen und beeinflussen die gesamte Lebensbahn.

Praxisbeispiel: Der Weg nach oben
Francis Seecks eigene Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie schwierig der Aufstieg aus prekären Verhältnissen ist. In ihren Büchern & Fachartikeln erläutert sie immer wieder, dass es nicht allein um materielle Ressourcen geht. Vielmehr sind es die vielen kleinen Diskriminierungen, die sich über die Jahre häufen: Von der Wahl des Namens über die Wohnadresse bis hin zum Akzent. Ihre Forschung belegt, dass Bewerbungen mit ‘prekären Namen’ signifikant schlechter abschneiden – selbst wenn die Qualifikation identisch ist.

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Was können wir tun?
Um echte Chancengleichheit zu erreichen, müssen wir uns dieser Strukturen bewusst werden. Es reicht nicht aus, einfach zu sagen “jeder hat die gleichen Möglichkeiten”. Wir müssen aktiv werden:

Sensibilisierung für klassistische Denkmuster
Förderung von Bildungsprojekten in sozial schwachen Gebieten
Durchsetzung von Blind Assessment-Prozessen bei Bewerbungen
Schaffung von Mentoring-Programmen für Personen aus prekären Verhältnissen.

Abschließend möchte ich betonen: Klassismus ist keine Frage von Gut oder Böse. Er ist vielmehr ein System, das sich selbst verstärkt und reproduziert. Doch gerade weil wir nun verstehen, wie dieses System funktioniert, können wir auch beginnen, es Stück für Stück zu verändern.

Mit besorgtem Optimismus,
Schwabing Dog

Die Kurz-URL des vorliegenden Artikels lautet: https://klassengesellschaft.com/seeck

Über Schwabing Dog

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Hundeaffiner Frührentner & politischer Aktivist, der gerne seine Privatsphäre pflegt. Als tierliebende Betreuungsperson von Fellnasen mag ich besonders gern anspruchsvolle Charakterhunde (Sturrköpfe), die bei mir auch mal so richtig aufdrehen (toben) dürfen.

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